Grund­begriffe

Grundbegriffe der Individualpsychologie

Die Individualpsychologie wurde vor dem ersten Weltkrieg von Alfred Adler und seinen Mitarbeitern begründet. Aus ihrer Historie heraus ist sie eng mit der Geschichte der Psychoanalyse Freuds verbunden, da sie ihre Entstehung vielen kontroversen Vorstellungen über die "Seele" des Menschen zwischen Freud und Adler und der damit verbundenen Trennung Adlers von der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung verdankt (vgl. Brunner u.a. 1985; Schmidt 1989; Schmidt 1995).

Bereits 1912 stellte Adler in seinem Hauptwerk "Über den nervösen Charakter" die von ihm vertretene "Vergleichende Individual-Psychologie und Psychotherapie" vor, deren Erkenntnisse sowohl auf seiner bis dahin langjährigen Arbeit über die organischen Grundlagen der Neurosen (1906) als auch auf seiner tiefenpsychologischen Interpretation pädagogischer Probleme (1902) beruhten (Adler 1988a).

Aus seinen Studien über Neurosen und Psychosen entwickelte Adler ein Grundverständnis der Gesetzmäßigkeiten menschlichen Handelns. Dabei betrachtet er die Persönlichkeit des Menschen zunächst als zielgerichtete Einheit.

"Das Ziel des menschlichen Seelenlebens wird so zum Dirigenten, zur causa finalis, und reißt alles seelische Bewegliche in den Strom des seelischen Geschehens hinein. Hier ist die Wurzel der Einheit der Persönlichkeit, der Individualität. Ihre Kräfte könnten woher immer gekommen sein, nicht woraus sie entstanden sind, wohin sie gehen, auf was sie hinauslaufen, macht ihre Eigenart aus" (Adler 1923c, S.1, zit. n. Ansbacher/Ansbacher 1982, S.106).

Diese Finalität menschlichen Handelns ist dem Menschsein immanent und anthropologisch eine Grundbedingung menschlichen Daseins, sowohl körperlich, geistig als auch seelisch.

"Was für den Organismus im allgemeinen gilt, gilt auch für die körperlich-seelische Einheit des menschlichen Organismus, für die menschliche Persönlichkeit. Auch sie ist sinnvoll als zweckhafte Einheit, auch ihre Zweckhaftigkeit ist immanent. Jeder Mensch ist Zweck seiner selbst. Seiner Selbsterhaltung dienen alle seine Funktionen. Jedes seiner Organe ist nur sinnvoll in Beziehung auf den Gesamtorganismus. Vielfältige Organe und Funktionen sind nach dem Prinzip der Arbeitsteilung dem einen Ziel der Selbsterhaltung zugeordnet. Selbsterhaltung der Gattung über das Einzelindividuum hinaus ist Arterhaltung" (Wexberg 1987, S.13f.).

Diese anthropologische Tatsache dient Adler zur Erklärung psychischer Prozesse, wobei er stark von Vaihingers Philosophie des "Als-ob" beeinflusst wurde (vgl. Vaihinger 1927). Adler entwickelte aus seinen Studien über die Organminderwertigkeit ein Menschenbild, wonach der Mensch als "physiologische Frühgeburt" in Anlehnung an Portmann (vgl. Hamann 1982) von Geburt an unterschiedliche Formen der Minderwertigkeit erleben kann:

  • eine kosmische (Ohnmachtgefühl gegenüber dem Kosmos),
  • eine biologische (als Entwicklungstatsache),
  • eine organische (Krankheiten, körperliche Unzulänglichkeiten)
  • und/oder eine soziale (Diskriminierungen, subjektive Bewertung sozialer Interaktionen).

Dabei betont Adler immer wieder, dass nicht die objektiv gegebene Minderwertigkeit an sich eine Stellungnahme zum Leben entscheidet, sondern die Bewertung durch den Betroffenen selbst ist das entscheidende Kriterium.

"Immer aber baut sich sein Wollen und Denken über der Grundlage eines Gefühls der Minderwertigkeit auf. Dieses Gefühl ist stets als relativ zu verstehen, ist aus den Beziehungen zu seiner Umgebung erwachsen oder zu seinen Zielen" (Adler 1988a, S.44).

Das Gefühl der Minderwertigkeit als anthropologische Tatsache im Sinne einer Unvollkommenheit wird von Adler als Triebfeder für menschliches Handeln an sich verstanden.

"Aber diese Minderwertigkeit, die ihm anhaftet, die ihm als ein Gefühl des Verkürztseins und der Unsicherheit zum Bewusstsein kommt, wirkt als ein fortwährender Reiz, einen Weg ausfindig zu machen, um die Anpassung an dieses Leben zu bewerkstelligen, vorzusorgen, sich Situationen zu schaffen, wo die Nachteile der menschlichen Stellung in der Natur ausgeglichen erscheinen" (Adler 1988b, S.39).

Diese schöpferische Kraft bestimmt zunächst den Aktivitätsgrad eines Menschen. Minderwertigkeit als Triebfeder veranlasst den Menschen durch eigene Leistung nach Vervollkommnung zu streben.

"Aus der Situation des einzelnen Menschen ist auch sein Wollen zu begreifen. Der Wille stellt nichts anderes vor als eine Regung, aus einem Gefühl der Unzulänglichkeit zu einem Gefühl der Zulänglichkeit zu gelangen. Diese Linie vorschweben fühlen und betreten, heißt wollen. Jedes Wollen rechnet mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit, der Minderwertigkeit und löst den Zwang aus, die Neigung, einen Zustand der Sättigung, der Zufriedenheit, der Vollwertigkeit anzustreben" (Adler 1988b, S.41)

In diesem Sinne ist die schöpferische Kraft zunächst einmal eine Disposition, die im Laufe der Sozialisation des Kindes ihre Zielrichtung erfährt. Dieses Streben, die schöpferische Kraft des Kindes, das Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden, ist zunächst auf die jeweilige Gemeinschaft, in die es hineingeboren wird, ausgerichtet. Damit wird die Aktivität oder Leistung eines Menschen an seiner Nützlichkeit für eine Gemeinschaft gemessen. Diese Nützlichkeit wird als ein Beitrag für eine Gemeinschaft verstanden.

"Man hört oft den Einwand, dass die großen Leistungen der Menschheit ohne Ehrgeiz nicht hätten zustande kommen können. Das ist aber falscher Schein, ist eine falsche Perspektive. Da kein Mensch von Eitelkeit frei ist, hat wohl auch jeder Mensch etwas von diesem Zug. Dieser kann ihm aber sicherlich nicht die Richtung gegeben und ihm jene Kraft verliehen haben, die zu nützlichen Leistungen führt. Diese können nur aus dem Gefühl der Gemeinschaft zustande kommen. Eine geniale Leistung ist nicht möglich, ohne dass dabei irgendwie die Gemeinschaft ins Auge gefasst wird. Voraussetzung dazu ist immer eine Verknüpftheit mit der Gesamtheit, ist der Wille, sie zu fördern. Sonst kämen wir auch nicht dazu, einer solchen Leistung Wert zuzusprechen" (Adler 1988b, S.172).

Adler setzt dabei beim Menschen eine soziale Grunddisposition voraus, die er Gemeinschaftsgefühl nennt. Dabei handelt es sich nach Adler zunächst um eine angeborene Fähigkeit, die durch die Umgebung erst entwickelt werden muss.

"Es kann erst wie die von ihm abhängigen Charakterzüge lebendig gemacht werden im sozialen Zusammenhang, freilich nur in der Weise, wie das Kind den sozialen Zusammenhang dunkel versteht. Es liegt die Entscheidung in der schöpferischen Kraft des Kindes, geleitet durch die Außenwelt, durch Erziehungsmaßnahmen, beeinflusst durch das Erlebnis seines Körpers und dessen Wertung" (Adler 1933i, S.263. zit. n. Ansbacher/Ansbacher 1982, S.141).

Diese schöpferische Kraft, die sich im Aktivitätsgrad ausdrückt, ist damit durch seine Zielrichtung zunächst eng mit dem Gemeinschaftsgefühl verbunden. Das Verhalten des Einzelnen in seiner "realen" Gemeinschaft lässt Rückschlüsse über den Grad seines Gemeinschaftsgefühls zu, d.h. darüber wie sehr er sich einer Gemeinschaft zugehörig fühlt, und damit über seine Aktivität im Sinne eines Beitrages für die Gemeinschaft.

"Mitbestimmt wird die Setzung des Zieles der Überlegenheit durch die Größe des Gemeinschaftsgefühls. Wir können kein Kind, keinen Erwachsenen beurteilen, wenn wir nicht einen Vergleich ziehen zwischen dem in ihm vorhandenen Gemeinschaftsgefühl und dem Beitrag seines Strebens nach Macht und Überlegenheit über die Anderen" (Adler 1988b, S.73).

Erst die subjektive Deutung des Einzelnen, seine daraus resultierende Stellungnahme zu den von Adler postulierten drei Lebensaufgaben: Familie, Beruf und Gemeinschaft entscheidet über eine mehr oder weniger gelungene Sozialisation. Durch die Bewertung der eigenen subjektiv erlebten Minderwertigkeit sowie der damit verbundenen Stellungnahme zur Gemeinschaft entwickelt ein Mensch bereits in den ersten sechs Lebensjahren einen ihm eigenen Lebensstil, als Antwort auf die Gemeinschaft.

"Hat das Kind sein Bewegungsgesetz gefunden, in dem Rhythmus, Temperament, Aktivität und vor allem der Grad des Gemeinschaftsgefühls beobachtet werden müssen, Erscheinungen, die oft schon im zweiten Lebensjahre, sicher im fünften erkannt werden können, dann sind damit auch alle seine anderen Fähigkeiten in ihrer Eigenart an dieses Bewegungsgesetz gebunden. In dieser Schrift soll hauptsächlich die daran anknüpfende Apperzeption, wie der Mensch sich und die Außenwelt sieht, betrachtet werden. Mit anderen Worten: die Meinung, die das Kind, und später in der gleichen Richtung der Erwachsene, von sich und von der Welt gewonnen hat" (Adler 1980, S.24).

Diese Meinung über sich, die Mitmenschen und die Welt lässt den Menschen Stellung beziehen zu seiner Beteiligung an der Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft. Im Lebensstil findet diese "unbewusste" Meinung ihren Ausdruck, er beinhaltet ein immer gleiches Muster, als Antwort auf unterschiedliche Situationen.

Dieses Muster ist dabei individuell, als Ausdruck der Persönlichkeit: Es zeigt sich eine individuelle Ausprägung des Aktivitätsgrades und des Grades des Gemeinschaftsgefühls eines Menschen, die ihren Ausdruck in den sozialen Beitragsformen eines Menschen finden.

"Wir waren bestrebt, darauf hinzuweisen, dass wir über die Persönlichkeit eines Individuums nur dann Aufschluss bekommen können, wenn wir es in seiner Situation beurteilen und darin verstehen. Unter Situation haben wir die Stellung des Menschen im Weltall und zu seiner näheren Umgebung verstanden, seine Stellung zu den Fragen, die ihm unausgesetzt begegnen, wie Fragen der Betätigung, des Anschlusses, der Beziehung zu den Mitmenschen... Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Gemeinschaftsgefühl wird in der Seele des Kindes bodenständig... Es bleibt durch das ganze Leben, nuanciert, beschränkt oder erweitert sich und erstreckt sich in günstigen Fällen nicht nur auf die Familienmitglieder, sondern auf den Stamm, das Volk, auf die ganze Menschheit" (Adler 1988b, S.50f.).

Der Maßstab für die Beurteilung der Aktivität eines Menschen ist daher die soziale Nützlichkeit. Diese Aktivität, als Beitragsbereitschaft definiert, variiert jeweils zwischen hoher und niedriger Beitragsbereitschaft, abhängig von dem Grad des Gemeinschaftsgefühls.

Eine hohe Beitragsbereitschaft muss jedoch nicht zwingend mit einem hohen Gemeinschaftsgefühl verknüpft sein, auch ein neurotisch ehrgeiziger Mensch zeigt eine sehr hohe Leistungsbereitschaft, die zwar nützlich für eine Gesellschaft sein kann, von ihrer Finalität her jedoch nicht auf eine Gemeinschaft bezogen ist, sondern auf ein Streben nach Überlegenheit über andere.

"Durch besondere Kraftanstrengungen vermittels welcher diese Kinder über alle andern hinauswachsen wollen, setzen sie sich in Widerspruch zu den gemeinsamen Aufgaben, die den Menschen obliegen. Wenn man diesen Typus der Machtlüsternen mit dem Ideal eines Gemeinschaftsmenschen vergleicht, wird man bei einiger Erfahrung jene Übung im Abschätzen gewinnen, die gestattet, ungefähr festzustellen, wie weit sich ein Mensch vom Gemeinschaftsgefühl entfernt hat" (Adler 1988b, S.78).

Ebenso wenig muss ein nach außen hin sichtbar hoher Gemeinschaftsbeitrag nicht unbedingt auf ein hohes Gemeinschaftsgefühl schließen lassen.

"Eine weitere, interessante Art der Herabsetzung fand ich bei Nervösen in ihrer Fürsorge, in ihrem ängstlichen Gehaben und in ihren Befürchtungen um das Schicksal anderer Personen. Sie benehmen sich, als wären andere unfähig, ohne ihre Hilfe für sich zu sorgen. Sie geben immer Ratschläge, wollen alles selbst zu Ende bringen, finden immer neue Gefahren und ruhen nicht, bis sich der andere kopfscheu und entmutigt ihren Händen anvertraut" (Adler 1988a, S.221).

Bereits hier wird deutlich, dass das Kriterium für die soziale Nützlichkeit zunächst eine ethisch-moralische Beurteilung ist, die ihre Begründung aus humanistischen Werten zieht, wobei es Adler und auch späteren Individualpsychologen nicht gelingt, diesen Anspruch auf Allgemeingültigkeit wissenschaftlich fundiert zu begründen. Diese ethische Problematik und die damit verbundene Unschärfe der von Adler verwendeten Begriffe taucht bei der Operrationalisierung des Untersuchungsgegenstandes als Problem in aller Bandbreite wieder auf (vgl. Kap.2).

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